Example: barber

Soziales und kollektives Gedächtnis - bpb.de

Aleida AssmannSoziales und kollektives Ged wir ber das soziale und kollektive Ged chtnis sprechen, kommen wir dabei nicht ohne das individuelle Ged chtnis aus. Wie h ngen diese Ged chtnisformen zusammenh ngen? Ich beginne mit dem Hinweis, da wir als Individuen zwar unteilbar sein m gen, aber dennoch keineswegs selbstgen gsame Einheiten sind. Sie sind immer schon Teil gr erer Zusammenh nge, in die sie eingebettet sind und ohne die sie nicht existieren k nnten. Jedes Ich ist verkn pft mit einem Wir , von dem es wichtige Grundlagen seiner eigenen Identit t bezieht. Auch dieses Wir ist wiederum keine Einheitsgr e, sondern vielfach gestuft und markiert zum Teil ineinander greifende, zum Teil disparate und nebeneinander stehende Bezugshorizonte. Die unterschiedlichen Wir-Gruppen, mit denen ein Individuum sich verbindet, spiegeln ein Spektrum heterogener Mitgliedschaften, die mehr oder weniger exklusiv sind. Der Eintritt in diese Wir-Gruppen erfolgt zum Teil unwillk rlich (das hei t w rtlich: ohne eine bewusste Wahl) wie im Falle der Familie, der Generation, der Ethnie oder auch der Nation, in die sie hineingeboren werden.

Vom sozialen und kollektiven Gedächtnis können wir ferner das kulturelle Gedächtnis unterscheiden, das ebenfalls ein langfristiges Gedächtnis ist.

Information

Domain:

Source:

Link to this page:

Please notify us if you found a problem with this document:

Other abuse

Transcription of Soziales und kollektives Gedächtnis - bpb.de

1 Aleida AssmannSoziales und kollektives Ged wir ber das soziale und kollektive Ged chtnis sprechen, kommen wir dabei nicht ohne das individuelle Ged chtnis aus. Wie h ngen diese Ged chtnisformen zusammenh ngen? Ich beginne mit dem Hinweis, da wir als Individuen zwar unteilbar sein m gen, aber dennoch keineswegs selbstgen gsame Einheiten sind. Sie sind immer schon Teil gr erer Zusammenh nge, in die sie eingebettet sind und ohne die sie nicht existieren k nnten. Jedes Ich ist verkn pft mit einem Wir , von dem es wichtige Grundlagen seiner eigenen Identit t bezieht. Auch dieses Wir ist wiederum keine Einheitsgr e, sondern vielfach gestuft und markiert zum Teil ineinander greifende, zum Teil disparate und nebeneinander stehende Bezugshorizonte. Die unterschiedlichen Wir-Gruppen, mit denen ein Individuum sich verbindet, spiegeln ein Spektrum heterogener Mitgliedschaften, die mehr oder weniger exklusiv sind. Der Eintritt in diese Wir-Gruppen erfolgt zum Teil unwillk rlich (das hei t w rtlich: ohne eine bewusste Wahl) wie im Falle der Familie, der Generation, der Ethnie oder auch der Nation, in die sie hineingeboren werden.

2 Neben dem Einstieg durch Geburt gibt es Mitgliedschaften, in die man durch eigene freie Wahl sei es in bereinstimmung mit F higkeiten und Interessen eintritt (wie im Falle eines Chors oder einer politischen Partei), sei es durch Leistung und Nominierung (wie im Falle von Akademien und Orden) oder auch durch Zwang (im Falle der allgemeinen Wehrpflicht f r bestimmte m nnliche Jahrg nge). Die Wir-Gruppen, in denen wir uns als Individuen vorfinden, in die wir hineinwachsen und die wir selber w hlen und aufbauen, sind f r unser Leben von unterschiedlicher Bedeutung und Dauer. Die These ist, da sich das Ged chtnis des einzelnen im Austausch mit solchen Wir-Gruppen bildet, die zum Teil unverbunden nebeneinander stehen, zum Teil ineinander greifen und sich gegenseitig verst rken. Was sind nun die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem sozialen und dem kollektiven Ged chtnis? In der kleinen Wir-Gruppe der Familie oder dem Freundeskreis wie in der gro en Wir-Gruppe der Nation festigen sich Erinnerungen durch ihren emotionalen Gehalt.

3 1 Erinnert wird, was als auff llig wahrgenommen wurde, was einen tiefen Eindruck gemacht hat, was als bedeutsam erfahren wurde. Emotionen sind die Aufmerksamkeitsverst rker, die auch zur Stabilisierung der Erinnerung beitragen. Gemeinsam ist ihnen ebenfalls, da die Erinnerungen, die ausgew hlt werden, die Identit t der Gruppe st rken, und die Identit t der Gruppe die Erinnerungen befestigt; mit anderen Worten: das Verh ltnis zwischen Erinnerungen und Identit t ist zirkular. Der wichtigste Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Ged chtnis besteht darin, da die Erinnerungen im sozialen Ged chtnis kurzfristig sind und sich nach einer gewissen Zeit wieder aufl sen. Im Gegensatz zum sozialen Ged chtnis, das notwendig ephemer ist, ist das kollektive Ged chtnis stabil und darauf angelegt, l ngere Zeitr ume zu berdauern. Dieser Unterschied zwischen einem befristeten und einem entfristeten Ged chtnis h ngt mit den Ged chtnismedien zusammen. Das wichtigste Medium des sozialen Ged chtnisses ist das Gespr ch.

4 Dieses Ged chtnis lebt vom und im kommuniktiven Austausch am Leben. Solange eine Gruppe mit einer gemeinsamen Erfahrungsbasis sich ber diese Erfahrungen aus ihren verschiedenen Perspektiven heraus immer wieder austauscht, solange besteht ein Soziales Ged chtnis. In solche Gruppen w chst man hinein und stirbt aus ihnen heraus. Mit demTode der lebendigen Tr ger l st sich ein soziale Ged chtnis immer wieder Medium des kollektiven Ged chtnisses ist dagegen viel st rker geformt als das soziale Ged chtnis. Peter Novick schreibt: Das kollektive Ged chtnis vereinfacht; es sieht die Ereignisse aus einer einzigen, interessierten Perspektive; duldet keine Mehrdeutigkeit; reduziert die Ereignisse auf mythische Archetypen. 1 Ich f ge hinzu: im kollektiven Ged chtnis werden mentale Bilder zu Ikonen und Erz hlungen zu Mythen, deren wichtigste Eigenschaft ihre berzeugungskraft und affektive Wirkmacht ist. Solche Mythen l sen die historische Erfahrung von den konkreten Bedingungen ihres Entstehens weitgehend ab und formen sie zu zeitenthobenen Geschichten um, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.

5 Wie lange sie weitergegeben werden, h ngt davon ab, ob sie gebraucht werden, : ob sie dem gew nschten Selbstbild der Gruppe und ihren Zielen entsprechen oder nicht. Ihre Dauer wird nicht dadurch begrenzt, da die Tr ger wegsterben, sondern dadurch, da sie dysfunktional und durch andere ersetzt werden. 1 Peter Novick, Nach dem Holocaust, Frankfurt 2003, sozialen und kollektiven Ged chtnis k nnen wir ferner das kulturelle Ged chtnis unterscheiden, das ebenfalls ein langfristiges Ged chtnis ist. Die Dauer des kulturellen Ged chtnisses beruht auf Institutionen wie Bibliotheken, Museen und Archiven, die auf bestimmte Entscheidungen zur ckgehen und solche best tigen und weiter entwickeln. Mit diesen Institutionen sind spezialisierte Berufsfelder wie Kuratoren, Bibliothekare und Historiker verbunden, die die materiellen Best nde einer Kultur konservieren und deuten, und deren Beruf deshalb im weiteren Sinne die Erinnerung ist. Emotionale Ladung, Pr gnante Gestaltung und institutionelle Festigung sind somit die unterschiedlichen Stufen, auf denen das soziale, kollektive und kulturelle Ged chtnis aufruht.

6 2. Formen der TeilhabeAuf welche Weise hat das Individuum an diesen verschiedenen Ged chtnisformen teil? Wie kommt man als Individuum zu einem sozialen, zu einem kollektiven, zu einem kulturellen Ged chtnis?Zu einem sozialen Ged chtnis kommt man unweigerlich dadurch, da man geboren wird und in eine menschliche Gemeinschaft hineinw chst. In dem Ma e wie wir sprechen lernen, lernen wir auch die Interaktionsform bzw. den Sprechakt des memory talk oder conversational remembering ; es sind ganz wesentlich diese Bez ge und Bindungen, die, wie Maurice Halbwachs gezeigt hat, die Voraussetzung daf r sind, da wir berhaupt ein Ged chtnis aufbauen k nnen. Unser individuelles Ged chtnis ist also immer schon sozial einfach zu beantworten ist die Frage, wie wir zu einem kulturellen Ged chtnis kommen. Hier m ssen wir uns klarmachen, was J rgen Trabant einmal ber die Vermitteltheit unseres Weltbezugs gesagt hat. Er macht darauf aufmerksam, da wir in unserer Kultur viel mehr Wissen durch die Vermittlung der Zeichen erwerben als durch direkte Nachahmung, direkte Erfahrung, eigenes Handeln und eigne Manipulation.

7 2 Es besteht gerade kein Abgrund , so betont er, zwischen meinem einsamen Wissen und der gesellschaftlichen Dimension ; denn der gr te Teil meines 2 J rgenTrabant, Wissen als Handeln und die Vermittlung der Zeichen , Rechtshistorisches Journal 18, 1999, 260-269, Hier: ist ja nicht aus meiner Welterfahrung bezogen, sondern durch Vermittlung durch Zeichen. 3 Entsprechendes gilt f r das kulturelle Ged chtnis: es besteht aus kodifizierten und gespeicherten Zeichen, die wir zusammen mit dem allgmemeinen und spezialisierten Wissen durch die Bildungsinstitutionen aufnehmen. Vom allgemeinen oder spezialisierten Wissen unterscheiden sich die Inhalte des kulturellen Ged chtnisses jedoch dadurch, da wir sie uns aneignen, nicht um sie zu beherrschen oder f r bestimmte Ziele einsetzen, sondern um uns mit ihnen auseiander zu setzen und sie zu einem Element unserer Identit t zu machen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie wir zu einem kollektiven Ged chtnis kommen. Zu einer nationalen Identit t kommt man durch einen Pa 4; aber wie kommt man zu einem nationalen Ged chtnis?

8 Die Antwort ist: durch Teilnahme an Riten. Daf r schreiben nationale Festtage bestimmte Handlungen vor; mal sind es Tage der Freude und des Triumphs, die mit einem Feuerwerk gefeiert werden wie am 4. Juli in den USA oder am in der Schweiz, mal sind es Tage des Traumas und der Trauer, die mit Schweigeminuten begangen werden wie am 4. Mai in Holland oder am Yom Ha Shoah in Israel. Nehmen wir als Beispiel die Protestanten in Nordirland, f r die es viele Kalendertage gibt, an denen sie sich ihrer kollektiven Identit t erinnern. Im Zentrum dieses kollektiven Ged chtnisses steht Schlacht, in 1690 der protestantische K nig William of Orange am Boyne ber die katholischen Iren gesiegt hat. Dieser Sieg wurde zur unersch pflichen Mahnung an die irischen Protestanten, es ihm gleichzutun. Remember 1690 , kurz: REM 1690 steht als Graffito auf den Hausw nden in West-Belfast. Diese Schlacht wird im kollektiven Ged chtnis immer wie neu aufgerufen, weil sie das Selbstverst ndnis einer Frontier-Gemeinde ausspricht, die im Rahmen eines kolonialen Expansionszugs entstanden ist und diese Identit t gegen Widerst nde noch immer aufrecht erh In ihrem kollektiven Ged chtnis stellt sich die Geschichte als ein endloser Ablauf sich wiederholender Ereignisse Die Geschichte wird in der Form gedeutet, kommuniziert, und praktiziert, da sie gegenw rtig bleibt, da Vergangenheit und Gegenwart an bestimmten Orten und in bestimmten Handlungen 3 Trabant, Dazu Valentin Groebner, Der Schein der Person, 5 (Widerholungszwang, vgl.)

9 Tschechien)6 John Borland, Graffiti, Paraden und die Alltagskultur von Nordirland , in : Harald Wlzer, Das soziale Ged chtnis, Hamburg 2001, 279, en. (278) In Nordirland kommt man als Loyalist zu einem nationalen Ged chtnis, indem man an den vielen M rschen teilnimmt, die im rituellen Kalender stehen. Beim gemeinsamen Marschieren wird getrommelt und werden die Lieder und Parolen des kollektiven Ged chtnisses eingesch rft und k rperlich angeeignet; dabei handelt es sich nicht um eine einsame sthetische oder kognitiv kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten, wie sie f r das kulturelle Ged chtnis charakteristisch sind, sondern um einen gemeinsamen k rperlichen Vollzug. Zwei weitere Beispiele: israelische Schulklassen eignen sich das nationale Ged chtnis des Staates, den Holocaust, in der Weise gemeinsam k rperlich an, da sie nach Auschwitz und in andere Todeslager fahren, wo ihre Verwandten umgebracht wurden. Sie h llen sich dabei in die nationale Fahne wie in einen s kularen Gebetsschal.

10 Auch junge amerikanischen Juden, die organisierte Reisen nach Auschwitz und Treblinka unternehmen, um das kollektive historische Trauma individuell nachzuerleben , berichten hinterher, sie seinen nie so stolz gewesen, ein Jude zu Ein anderes Beispiel f r eine solche Initiation in ein kollektives Ged chtnis beschreibt der Historiker Peter Novick in seinem Buch The Holocaust in American Life. Er bezieht sich dabei auf das Initiationsritual der Bar oder Bat Mitzwah, das Jugendliche in die religi se Gemeinschaft der Juden einf hrt. In einer wachsenden Zahl von Gemeinden , so schreibt er, wird das Kind bei der Mitzwah zum Zwilling eines jungen Opfers des Holocaust erkl rt, das die Zeremonie nicht erleben konnte. 8 Hier wird der religi sen Zeremonie eine zus tzliche Bedeutung gegeben, indem sie mit einer Einweihung in die Schicksalsgemeinschaft des Holocaust verkn pft wird. 3. Offizielles und Inoffizielles Ged chtnisKehren wir noch einmal zum sozialen Ged chtnis zur ck, das keine so einheitliche Gestalt hat wie das kollektive Ged chtnis.


Related search queries